Wege in die offene Psychiatrie
Filmsequenz [fünf] erzählt die jüngere und jüngste Vergangenheit der Psychiatrie und ihre Wege hin zu einer offeneren Gestalt. Längst sind die ehemaligen Anstalten verkleinert, in ihrer Binnenstruktur spezialisiert, das Versorgungssystem ist regionalisiert und durch extramurale Einrichtungen ergänzt – in Österreich. Anders in Italien: Die psychiatrischen Anstalten als solche sind verschwunden. Gegenwärtig wird an der Schließung der Forensiken gearbeitet. Psychiatrische Akutpatientinnen und -patienten werden heute in kleinen Abteilungen allgemeiner Krankenhäuser behandelt und/oder gemeindenah von multiprofessionellen Teams in den Zentren für psychische Gesundheit betreut. Die schillerndste Persönlichkeit dieses Wandels war der Arzt Franco Basaglia, der 1978 gemeinsam mit der Reformbewegung „Demokratische Psychiatrie“ das Gesetz Nr. 180 auf den Weg brachte. Doch es sollte in manchen Regionen Italiens noch lange dauern, bis die Reformen umgesetzt wurden – etwa im Trentino. Die Anstalt in Pergine schloss ihre Tore endgültig erst 2002. In Südtirol blieben die Strukturen lange ungenügend. Seit den 1990er-Jahren aber hat sich ein Netz sozialpsychiatrischer Strukturen auch hier etabliert. Als wichtigste Etappe der österreichischen Psychiatriereform gilt das Unterbringungsgesetz aus dem Jahr 1991, kurz UbG, mit den flächendeckend eingerichteten Patientenanwaltschaften. Längst ist nicht aller Zwang aus der Psychiatrie verschwunden – er hat zum Teil auch neue, modernisierte Formen angenommen. Die Öffnung der (alten) Anstalt aber ist unübersehbar.
Die psychiatrische Pflege sieht sich heute neuen Herausforderungen und einem transformierten Berufsbild gegenüber. Die Veränderungen der Psychiatrie haben auch die Arbeit der Pflegerinnen und Pfleger verändert. Einige von ihnen waren und sind auch wichtige Protagonistinnen und Protagonisten dieses Wandels.
Die für Abschnitt [fünf] ausgearbeiteten Didaktikmaterialien fokussieren auf zweierlei. Sie zeigen in einem Radiofeature die Atmosphäre des Aufbruchs im Umfeld des Reformers Franco Basaglia und sie erzählen die Geschichte des Südtiroler Patienten Josef S., der in Pergine lange auf die Umsetzung der Reform zu warten hatte. Dem italienischen Beispiel folgt ein österreichisches: Tiroler Pflegekräfte beginnen ein ambulantes Versorgungsprojekt.
» Unterrichtsvorschlag I: Franco Basaglias großartiger Aufbruch und die langen Mühen der Ebene. Ein Radiofeature mit Fallgeschichte
» Unterrichtsvorschlag II: „Dass es gelingen kann, PsychiatriepatientInnen außerhalb der Klinik zu stabilisieren …“. Der Psychosoziale Pflegedienst Tirol. Ein Interview
Unterrichtsvorschlag I:
Franco Basaglias großartiger Aufbruch und die langen Mühen der Ebene. Ein Radiofeature mit Fallgeschichte
Lernziele:
- Einblick gewinnen in die Atmosphäre des historischen Aufbruchs rund um die erste Öffnung der Psychiatrie in Triest (Stichwort: Basaglia-Experiment)
- Wissenserwerb über die wichtigsten Etappen der italienischen Psychiatriereform (einschließlich des heute zur Verfügung stehenden Betreuungssettings)
- Kenntnis erlangen über die zeitgleiche Ungleichzeitigkeit historischer Entwicklung
- Gewahr werden des methodisch-didaktischen Werts der Arbeit mit Fallgeschichten als Möglichkeit, am Einzelfall das Allgemeine der Geschichte zu erkennen
- Kennenlernen des Einsatzes alternativer Medien im Unterricht, etwa der Arbeit mit einem Hörbeispiel
Basisinformation:
In den 1960er-Jahren brach die europäische Psychiatrie in eine neue Richtung auf. Der Wunsch nach Veränderungen löste im Italien jener Zeit einen Prozess aus, der 1978 in das Gesetz zur Schließung der psychiatrischen Anstalten mündete (Basaglia-Gesetz). Die italienische Reformbewegung nahm ihren Ausgang an den psychiatrischen Anstalten in Görtz und Triest, wo Franco Basaglia zusammen mit einer Gruppe von Psychiaterinnen und Psychiatern, Psychologinnen und Psychologen sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern das Experiment begann. Auch aus dem Ausland kam interessiertes ärztliches und therapeutisches Personal an diese Wirkungsstätten. Von Triest ausgehend fand Basaglias Psychiatriereform weltweites Echo. In den einzelnen Regionen Italiens erfolgten die Schließung der psychiatrischen Anstalten und der Aufbau alternativer Strukturen unterschiedlich rasch. Besonders spät, erst 2002, wurde die Anstalt Pergine im Trentino aufgelöst.
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Auszüge (17 min.) aus „Wahnsinn in Triest oder Vokalische Spur zu Franco Basaglia“, ORF, Ö1, vom 10. April 2010. Ein Radio-Feature von Ingram Hartinger (geb. 1949). Der österreichische Schriftsteller und Psychotherapeut arbeitete in den 1970er-Jahren als Volontär mit dem renommierten Reformpsychiater und Intellektuellen Franco Basaglia in Triest. 30 Jahre später kehrte er für die Arbeit an diesem Hörbild an den ehemaligen Schauplatz der bahnbrechenden italienischen Psychiatriereform zurück. Hartinger erzählt dabei auch die Geschichte von Marco Cavallo. Das ist ein Pferd aus Pappe und Holz. In seinen Bauch wurden alle Sehnsüchte und Wünsche der Kranken hinein verpackt. Eines Tages verließ es die Klinik, hinter ihm der Demonstrationszug aus ehemals Internierten, Ärzten, Pflegern und Menschen der Stadt Triest. Alternativ dazu steht den italienischsprachigen Nutzerinnen und Nutzern des Didaktikmaterials – das Feature gibt es nur auf deutsch – der instruktive Text von Maria Grazia Giannichedda „L‘esperienza di Gorizia. Siamo tutti matti da slegare“ aus il manifesto/supplemento [1968 – gennaio] des Jahres 1988 zur Verfügung.
Die biografische Fallgeschichte von Josef S. wurde für die Wanderausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol – Südtirol – Trentino“ 2011 erarbeitet. Sie erzählt die Geschichte eines Südtiroler Patienten, der 1964 zur Behandlung seiner Depression ins Ospedale Psichiatrico nach Pergine Valsugana kam. An seinem Schicksaal lässt sich die lange Verwirklichungsgeschichte der Basaglia-Reform nachvollziehen.
Arbeitsanregungen Lehrende:
Spielen sie den 17-minütigen Zusammenschnitt des Radio-Features „Wahnsinn in Triest oder Vokalische Spur zu Franco Basaglia“ entweder als Ganzes oder in seinen neun Ausschnitten vor. Das Hörbild steht Ihnen im MP3-Format zur Verfügung. Diskutieren Sie im Anschluss etwa folgende Fragen: Was lässt sich über Basaglias Arbeitsweise erfahren? Wie war das Klima im Ärzteteam zur Zeit des großen gesellschaftlichen Umbruchs? Wie gestaltete sich das Arzt-Patient-Verhältnis? Welche Symbolkraft entfaltete das Pferd aus Pappe „Marco Cavallo“ und was könnte der Grund für seine große Wirkung gewesen sein?
Während der erste Materialeinsatz die Stimmung des Aufbruchs markiert, betont der zweite die Mühen der Umsetzung. Ersuchen Sie die Studierenden, die biografische Fallgeschichte des Patienten Josef S. aufmerksam zu lesen (evtl. schon vorab zu Hause). Besprechen Sie im Unterricht gemeinsam eventuelle Unklarheiten. Für die eingehende Bearbeitung des Fallberichts stehen Ihnen nachfolgend zwei Arbeitsaufträge zur Auswahl. Der erste betont deutlicher den Erwerb von Wissen (Frage/Antwort), der zweite die diskursive Auseinandersetzung.
Arbeitsblatt Lehrende/Fallgeschichte:
Die Lernenden sollen mit Hilfe der biografischen Fallgeschichte von Josef S. selbst die wichtigsten Stationen der italienischen Psychiatriereform rekonstruieren. Dafür sollen sie Fragen zu folgenden Antworten formulieren. (Fakten)
Arbeitsblatt Lehrende: Download PDF (1 Seite) | Word (1 Seite)
Arbeitsblatt Lernende: Download PDF (1 Seite) | Word (1 Seite)
Unterrichtsvorschlag II:
„Dass es gelingen kann, PsychiatriepatientInnen außerhalb der Klinik zu stabilisieren …“. Der Psychosoziale Pflegedienst Tirol. Ein Interview
Lernziele:
- Kennenlernen eines Beispiels pflegerischen Engagements im Zuge der Öffnung der Psychiatrie
- Einblick erlangen in die Entwicklungsgeschichte eines Vereins von Pflegerinnen und Pflegern am Beispiel des Psychosozialen Pflegedienstes Tirol
- Kenntnis erlangen über die Herausforderungen außerstationärer Behandlung und Begleitung
- Gewahr werden des Erkenntnismittels der Zeitzeugenbefragung
- Kennenlernen des Einsatzes alternativer Medien im Unterricht, etwa der Arbeit mit einem Interviewbeispiel
Basisinformation:
Es ist die Zeit der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre in Tirol. Vor der Einführung des Unterbringungsgesetzes werden im psychiatrischen Krankenhaus Hall von den 24 Stationen noch 23 geschlossen geführt. Die Aufenthaltsdauer der meisten Patientinnen und Patienten ist lang, der Weg in ein autonomes Leben nach den hospitalisierenden Erfahrungen der Krankenanstalt ist schwierig. Aber auch an der Innsbrucker Psychiatrischen Klinik wird man sich eines, wenn auch anders gelagerten Problems bewusst. Die Aufenthaltsdauer der Patientinnen und Patienten ist hier zwar vergleichsweise kurz, aber sie kommen beständig wieder. Beidem will eine Gruppe von anfänglich ehrenamtlich arbeitenden Pflegerinnen und Pflegern begegnen. Sie entwickeln ein Modell außerstationärer Begleitung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und meist langer Psychiatrieerfahrung. Was 1986 als kleine Initiative beginnt, entwickelt sich bald – insbesondere auch vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Unterbringungsgesetzes (1991) und des Tiroler Psychiatrieplans (1995) – zu einer unverzichtbaren Einrichtung außerstationärer psychiatrischer Pflege mit heute mehr als 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: zum Psychosozialen Pflegedienst Tirol.
Für das Buch „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830“ (2011) führte der Journalist und Publizist Benedikt Sauer diverse Gespräche mit Protagonistinnen und Protagonisten der jüngeren und jüngsten Psychiatriegeschichte und -gegenwart in Tirol und Südtirol, darunter auch mit Karl-Heinz Alber, dem gegenwärtig geschäftsführenden Obmann des Psychosozialen Pflegedienstes Tirol. Der ehemalige Pfleger ist seit 1988 Mitglied des Vereins und erzählt die Geschichte von dessen Entstehung und Entwicklung. Der fünfseitige Interviewtext steht zum Download zur Verfügung. Er gibt Einblick in ein wichtiges Stück außerstationärer Begleitung psychisch kranker Menschen aus pflegerischer Perspektive.
Anregung Lehrende:
Laden Sie die Studierenden ein, den kurzen Text aufmerksam zu lesen (eventuell schon vorab, als Aufgabe für zu Hause). Besprechen Sie gemeinsam den historischen Kontext, in dem die Pflegerinitiative entstand, klären Sie etwaige unbekannte Konzepte und Begriffe, wie „Außerstationäre Behandlung“, „Drehtürpatient“, „Unterbringungsgesetz“ u. Ä. und animieren Sie anschließend zur Diskussion entlang des vorgestellten Beispiels – etwa unter folgenden Frageperspektiven: Wege in die offene Psychiatrie, ambulante versus stationäre Behandlung, extramurale Einrichtung in Stadt und Land, Pfleger und Pflegerinnen als Akteurinnen und Akteure des Wandels…
Vertiefungsmaterial
(download pdf: auf Titel klicken)
Helmut Dietl / Marina Descovich / Evelina Haspinger, „Der unhaltbare Zustand währte schon zu lange.“ Über die Tiroler Anfänge, geistig behinderten Menschen ein Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 219-225.
Matthias Lauer, Zwischen Menschenwürde und „Alternativlosigkeit“. Körpernahe freiheitsbeschränkende Maßnahmen in der Psychiatrie im Focus der PatientInnenrechte, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 213-217.
Rodolfo Taiani, “Liberare liberandosi”. Il cammino della riforma psichiatrica in Italia dall’immediato dopoguerra alla legge 180 del 1978, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 205-211.
Gespräche von Benedikt Sauer mit
Christian Haring, Hartmann Hinterhuber, Friederike Hafner, Lorenzo Toresini und Martin Achmüller;
alle erschienen in: Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011.
Grundlagentext:
Elisabeth Dietrich-Daum / Michaela Ralser, Die „Psychiatrische Landschaft“ des „historischen
Tirol“ von 1830 bis zur Gegenwart – Ein Überblick, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 17-41.