Die frühe Zeit
Filmsequenz [eins] widmet sich der Frühgeschichte der Psychiatrie im Raum des historischen Tirol. Medizingeschichtlich gilt die Psychiatrie als vergleichsweise junge Disziplin. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts suchte man dem Wahnsinn einen eigenen medikalen Ort unter Hoheit des Arztes zu erschaffen: die psychiatrische Krankenanstalt. Erst langsam setzte sich die Überzeugung durch, die so genannten Irren seien der Heilung bedürftig und fähig. So entstand auch im historischen Tirol ein erstes psychiatrisches Krankenhaus: die k. k. Provinzial-Irrenanstalt in Hall. Um 1830 war sie mit noch wenigen Betten eine der modernsten Anstalten der Habsburgermonarchie. Erst viel später wurde sie zur stets überfüllten Verwahr- und Versorgungsanstalt des Landes. Bis zu ihrer Gründung und auch noch lange Zeit danach wurden psychisch kranke Menschen in den Stadtspitälern, vor allem aber in den – im Sinne des aufgeklärten Wohltätigkeitsregimes in bald jeder Gemeinde eingerichteten – Versorgungshäusern untergebracht. Oder aber sie wurden in ihren Familien betreut. Wie überhaupt die familiale Pflege der dauerhafteste – meist weibliche – Betreuungsort der Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen blieb, vielfach bis heute.
Mit dem Beginn der Psychiatrie beginnt auch die Geschichte des „Wartpersonals“, wie die psychiatrischen Pflegerinnen und Pfleger damals genannt wurden. Sie ist eine Geschichte der „kleinen Leute“. Im Unterschied zur allgemeinen Krankenpflege entwickelte sich die psychiatrische Pflege nie zum bürgerlichen Frauenberuf, sondern blieb über lange Zeit eine Geschichte der Angehörigen der so genannten dienenden Schichten: der Männer ebenso wie der Frauen. Neun Wärterinnen und elf Wärter versahen in den Gründerjahren der Anstalt ihren Dienst in Hall. Die Fluktuation der so genannten Lohnwärterinnen und -wärter war groß, zumindest in den Anfangsjahren.
Die in Bezug auf „Die frühe Zeit“ bereitgestellten Unterrichtsmaterialien geben mit der aus dem Jahr 1834 stammenden Fallgeschichte des Dienstmädchens Maria M., einer frühen Patientin und späteren Pflegerin der Haller Anstalt, Einblick in die Alltagswelt des psychiatrischen Krankenhauses der Gründerzeit. Die didaktischen Anregungen zur Auseinandersetzung mit den Aufgaben und Pflichten des Pflegepersonals aus der Provinzial-Gesetzessammlung von 1830 geben Auskunft über die Arbeitsverhältnisse der Pflegerinnen und Pfleger zu einer Zeit, als die psychiatrischen Pflegekräfte noch Irrenwärterinnen und Irrenwärter hießen.
» Unterrichtsvorschlag I: Zur Frühgeschichte der Psychiatrie – eine Fallarbeit. Das Dienstmädchen Maria M., eine Patientin der Haller Irrenanstalt, erzählt
» Unterrichtsvorschlag II: Als die Pfleger noch Wärter hießen. Über die frühen Pflichten des Wartpersonals – aus der Provinzial-Gesetzessammlung von 1830
Unterrichtsvorschlag I:
Zur Frühgeschichte der Psychiatrie – eine Fallarbeit: Das Dienstmädchen Maria M., eine frühe Patientin der Haller Irrenanstalt (1834) erzählt
Lernziele:
- Einblick gewinnen in die Alltagswelt einer „Irrenanstalt“ zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
- Kenntnis erlangen über die Betreuung psychisch kranker Menschen in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
- Exemplarisch Wissen erlangen über die Frühgeschichte des psychiatrischen Pflegeberufs
- Gewahr werden des methodisch-didaktischen Werts der Arbeit mit Fallgeschichten als Möglichkeit am Einzelfall das Allgemeine der Geschichte zu erkennen
- Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit und des Perspektivwechsels
Basisinformation
Die erste psychiatrische Anstalt im historischen Raum Tirol, also in jenem Gebiet, in dem sich heute Tirol, Südtirol, das Trentino und auch Vorarlberg befinden, wurde 1830 in Hall, einer Kleinstadt westlich von Innsbruck, errichtet. Anhand der biografischen Fallgeschichte von Maria M., Tochter des Nachtwächters der Haller Saline, die im Jahr 1834 als Patientin in die Anstalt aufgenommen wurde, gewinnt man Einblick nicht nur in die damaligen Vorstellungen von psychischer Krankheit und deren Heilung, sondern ganz wesentlich auch in die Alltagswelt der Anstalt, in ihr familiales Organisationsprinzip und ihren patriarchalen Führungsstil. Die Fallgeschichte ist aber noch aus einem anderen Grund interessant: Sie erzählt gleichsam auch die Geschichte der psychiatrischen Pflege am Beginn des 19. Jahrhunderts. Maria M. wurde, nachdem sie vom ärztlichen Direktor für geheilt befunden worden war, zur „Wärterin“ in der Anstalt. Der Aufstieg vom Pflegling zur Pflegerin ist für die Frühzeit der Anstaltspsychiatrie ein nicht ganz ungewöhnliches Ereignis.
Die biografische Fallgeschichte „Das Dienstmädchen Maria M.“ wurde für die Wanderausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Eine Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol – Südtirol – Trentino“ erarbeitet. Die Grundlage der Fallgeschichte ist die überlieferte Krankenakte der Patientin. Das Fallbeispiel erzählt die Geschichte des – wir würden heute sagen: nach einem traumatischen Ereignis – mit 26 Jahren in die Haller Irrenanstalt eingewiesenen Dienstmädchens und ihren Weg vom „Pflegling“ zur Pflegeperson.
Arbeitsanregung Lehrende:
Die Studierenden erhalten die biografische Fallgeschichte „Das Dienstmädchen Maria M.“ zum aufmerksamen Durchlesen (eventuell schon vorab als Aufgabe für zu Hause). Im Zweiersetting sollen die Studierenden dann die im „Arbeitsblatt Lernende“ entwickelten Fragen beantworten. Nach dem Sammeln der Ergebnisse im Plenum und einer möglichen Diskussion derselben empfiehlt es sich, die Filmsequenz [eins] mit gezieltem Blick auf die besprochenen Themen erstmals oder auch ein zweites Mal anzusehen und zu diskutieren.
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Unterrichtsvorschlag II:
Als die Pfleger noch Wärter hießen. Über die frühen Pflichten des Wartpersonals – aus der Provinzial-Gesetzessammlung von 1830
Lernziele:
- Kennenlernen der Arbeitsbedingungen der „Irrenwärterinnen und -wärter“ im frühen 19. Jahrhundert
- Schärfung der Analysefähigkeit hinsichtlich der sozial distinktiv vorgetragenen Vorschriften und Verbote an die „Wärtersleute“ (Stichwort: Klassenfrage)
- Sensibilisierung für die Geschichte einer Profession: Vom Wärter zum akademischen Gesundheitsarbeiter
- Erfassen von Unterschieden und Parallelen hinsichtlich Aufgaben, Kompetenzen und Anforderungen an psychiatrische Pflegepersonen früher und heute
- Kennenlernen von verschiedenen Lesetechniken, die behilflich sein können, auch schwer zugängliche Quellen zu erschließen
Basisinformation
Im Jahr 1830, dem Jahr der Eröffnung der „k. k. Provinzial-Irrenanstalt“ in Hall, wurden in der Provinzial-Gesetzessammlung auch die „Pflichten der Wärtersleute“ festgehalten. Einige dieser Pflichten begleiten das frühere „Wartpersonal“ und spätere „Pflegepersonal“ in mehr oder weniger veränderter Form über Jahrzehnte hinweg. Die Quelle eignet sich daher im Besonderen für Auszubildende in (psychiatrischer) Gesundheits- und Krankenpflege, um auf Spurensuche zu gehen und die Geschichte des eigenen Berufsstandes zu erkunden.
Die „Pflichten der Wärtersleute“ sind aus der Provinzial-Gesetzessammlung von 1830 entnommen. Die darin aufgelisteten Vorschriften für das damalige Wartpersonal zeugen von einem vielschichtigen Ensemble an Instruktionen, Geboten und Verboten. Sie stehen hier als Auszug und für den Unterricht transkribiert zur Verfügung.
Arbeitsanregung Lehrende
Das Lesen dieses historischen Gesetzestextes ist für Ungeübte eine Herausforderung und erfordert daher etwas Zeit. Zur Erschließung der Quelle eignet sich eine quellenkritische Herangehensweise. Hierfür empfiehlt es sich, zunächst die klassischen W-Fragen zu stellen. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang insbesondere, der Frage nachzugehen, mit welcher Intention bzw. in welchem Zusammenhang der Text entstanden ist.
Eine andere Form der Annäherung an den Text bietet die Lesetechnik des pantomimischen Lesens, insbesondere um den Ton (in diesem Fall auch den sozial distinktiven Sprachstil) der Quelle zu erfassen. Eine Person liest in nicht zu raschem Tempo einen ausgewählten Abschnitt des Textes, ein bis zwei weitere Personen versuchen – parallel dazu – das Gehörte pantomimisch darzustellen.
Im Anschluss an das Lesen des Textes sollen in Dreiergruppen die weiterführenden Fragen anhand des „Arbeitsblatt Lernende“ beantwortet und die Arbeitsaufgaben (etwa das Erstellen eines „historischen Bewerbungsschreibens“) ausgeführt werden.
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Vertiefungsmaterial
(download pdf: auf Titel klicken)
Elisabeth Dietrich-Daum / Maria Heidegger, Die k. k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol im Vormärz – eine totale Institution? in: Martin Scheutz (Hg.), Totale Institutionen. Themenheft der Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/1 (2008), S. 68-85.
Elisabeth Dietrich-Daum, „Care“ im „ultimum refugium“. Versorgungshäuser als Orte kommunaler Armenpflege und -politik im 19. Jahrhundert, in: Erna Appelt / Maria Heidegger / Max Preglau / Maria A. Wolf (Hg.), Who Cares? Betreuung und Pflege in Österreich. Eine geschlechterkritische Perspektive, Innsbruck-Wien-Bozen 2010, S. 165-176.
Maria Heidegger, Psychiatrische Pflege im Rahmen eines historischen Anstaltsmodells: Das Beispiel der „k. k. Provinzialirrenanstalt“ Hall in Tirol 1830–1850, in: Erna Appelt / Maria Heidegger / Max Preglau / Maria A. Wolf (Hg.), Who Cares? Pflege und Betreuung in Österreich – eine geschlechterkritische Perspektive, Innsbruck 2010, S. 87-97.
Maria Heidegger / Oliver Seifert, „Nun ist aber der Zweck einer Irrenanstalt Heilung…“. Zur Positionierung des „Irrenhauses“ innerhalb der psychiatrischen Landschaft Tirols im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Rodolfo Taiani (Hg.), Psychiatrielandschaft / Oltre il manicomio. Themenheft der Zeitschrift „Geschichte und Region / Storia e regione“ 17/2 (2008), S. 24-46.
Gian Piero Sciocchetti, Sulla strada per Hall. Il ricovero dei malati di mente nel Tirolo Meridionale tra il 1804 ed il 1882, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Rodolfo Taiani (Hg.), Psychiatrielandschaft / Oltre il manicomio. Themenheft der Zeitschrift „Geschichte und Region / Storia e regione“ 17/2 (2008), S. 47-66.
Grundlagentext:
Elisabeth Dietrich-Daum / Michaela Ralser, Die „Psychiatrische Landschaft“ des „historischen Tirol“ von 1830 bis zur Gegenwart – Ein Überblick, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 17-41.