Die unsichtbare Arbeit
Zur Geschichte der psychiatrischen Pflege im historischen Tirol von 1830 bis zur Gegenwart

Die großen Anstalten und der Beginn der Klinik

Filmsequenz [zwei] handelt vom ausgehenden 19. Jahrhundert. Die für die deutschsprachige Psychiatrieentwicklung wesentliche Zeit der vorletzten Jahrhundertwende ist gekennzeichnet durch zahlreiche Anstaltsneugründungen, durch umfangreiche Ausbauten der bestehenden Häuser, durch den Beginn der Klinik und die zunehmende Verwissenschaftlichung der Psychiatrie – mit Wirkung weit über die Krankenanstalten hinaus. Diese Entwicklungen treffen auch für den Raum des historischen Tirol zu. Die Haller Anstalt wurde erheblich vergrößert: Sie versorgte 1910 mit 1.000 Patientinnen und Patienten fast doppelt so viele Menschen wie noch 20 Jahre zuvor. 1882 entstand die zweite große Landesirrenanstalt, das Manicomio di Pergine in der Valsugana, im heutigen Trentino. Auch sie wurde rasch um mehrere Pavillons erweitert. 1891 wurde die Innsbrucker Neurologisch-Psychiatrische Klinik errichtet. Damit erlangte die Psychiatrie den Status einer akademischen Wissenschaft. Neue Diagnoseverfahren und Behandlungsformen – von einfacher Behandlung mit allerlei elektrischem Gerät bis zu den drastischen Kuren der frühen Schocktherapien – wurden entwickelt. Die akademische Psychiatrie gewann rasch das Diskursmonopol und weitete ihren Deutungsanspruch weit in die Gesellschaft hinein aus. Demgegenüber blieb das Versorgungsmonopol noch bis in die frühen 1990er-Jahre bei den Anstaltspsychiatrien und dem dort beschäftigten Pflegepersonal.

Neben den mehrheitlich männlichen und den wenigen weiblichen weltlichen Pflegekräften lag die psychiatrische Pflege in Hall ab den 1880er-Jahren für lange Zeit in den (leitenden) Händen des Ordens der Barmherzigen Schwestern, in Pergine bei den Schwestern der Göttlichen Vorsehung. Die mittlere Geschichte der psychiatrischen Pflege ist also auch eine Geschichte der konfessionell gebundenen Ordenspflege – mit all dem, was sie als solche kennzeichnet.

Die für Abschnitt zwei bereitgestellten Unterrichtsmaterialien geben Einblick in die psychiatrischen Behandlungsmethoden der Zeit und zeigen, dass ihre Einführung – wie noch heute – nie allein medizinischen Erwägungen geschuldet ist. Und sie dokumentieren die Geschichte eines frühen Klinikpatienten, des Philosophiestudenten und autodidaktisch gebildeten Botanikers Siegfried E. Das interessante Egodokument gibt Auskunft darüber, wie ein aufgeklärter und mit den Texten der akademischen Psychiatrie vertrauter Patient um 1900 seine Krankheitsgeschichte beschreibt.

» Unterrichtsvorschlag I: Die „Bettbehandlung“. Eine neue Therapie um 1900 – Historische Berichte geben Auskunft über ihre nicht nur medizinische Funktion
» Unterrichtsvorschlag II: Der Student Siegfried E. Ein „aufgeklärter“ Klinikpatient um 1900 erzählt – ein Hörbeispiel mit Fallgeschichte

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Unterrichtsvorschlag I:

Die „Bettbehandlung“. Eine neue Therapie um 1900 – Historische Berichte geben Auskunft über ihre nicht nur medizinische Funktion

Lernziele:

  • Vertraut werden mit einer neuen Behandlungsform um 1900
  • Kennenlernen der unterschiedlichen Argumente, welche die Einführung einer Therapieform begleiten (können)
  • Reflexion des Zusammenhangs von Therapieform, ökonomischer Erwägung und disziplinierender Maßnahme
  • Einübung in die unterschiedlichen Lesarten, den medizinischen „Fortschritt“ betreffend
  • Förderung des kritischen Quellenlesens und -verstehens

 

Basisinformation

In diesem Unterrichtsvorschlag geht es darum, psychiatrische Therapieformen – in diesem Fall die Therapie der „Bettbehandlung“ um 1900 – aus unterschiedlichen Perspektiven kennen zu lernen. Mithilfe eines knappen Überblickstextes wird in die Behandlungsformen der historischen Psychiatrie eingeführt, die neue „Bettbehandlung“ erläutert und ihre Anwendung in den Tiroler Landesirrenanstalten in Hall und Pergine dargestellt. Zwei Quellentexte (eine Landtagsrede und ein zeitgenössischer Zeitungsbericht) geben Auskunft über die Motive ihrer Einführung. Sie folgen – wie gezeigt werden kann – nicht nur medizinischen Erwägungen. Die historische Fotografie eines Krankensaals der Irrenanstalt Pergine (1910) und ein Grundriss der Wacheabteilung für Frauen in Hall (1900) dienen der bildlichen Anschauung.

Die „Bettbehandlung“ oder „Das Gewöhnen der Kranken an eine gewisse Ordnung …“

(Download PDF)

Die Vorstellung der Heilbarkeit des „Wahnsinns“ hat ihre Ursprünge im ausgehenden 18. Jahrhundert und ist Wegbereiterin der modernen Psychiatrie. Seither entwickelten sich zahlreiche Therapieformen, die dem Anspruch auf Heilung psychisch Erkrankter gerecht werden sollten. Dabei kamen im frühen 19. Jahrhundert neben der „moralischen Behandlung“ (Ermahnung und Belehrung, Zwang und Ordnung, Zerstreuung und Arbeit) auch althergebrachte medizinische Verfahren wie Diäten, Abführmittel, Aderlass, pflanzliche Drogen etc. zum Einsatz. Die unten ausführlicher beschriebene Therapie des „Dauerbades“ und der „Bettbehandlung“ um 1900 wurde in der Zwischenkriegszeit durch Schocktherapien wie die „Insulinkur“ oder das Elektrokrampfverfahren zur Auslösung künstlicher Krampfanfälle abgelöst. Die Ära der Psychopharmaka hatte ihren Ausgang in den 1950er-Jahren.

Wer heute an ein Krankenhaus denkt, für den ist die Behandlung zu Bett eine Selbstverständlichkeit. Für die frühe Zeit der Anstaltspsychiatrie gilt diese Selbstverständlichkeit noch nicht, wie übrigens auch für die Gegenwart nicht mehr. Die so genannte „Bettbehandlung“ ist eine Erfindung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Erst seit den 1890er-Jahren wurde sie zu einer gängigen Form der Therapie – bzw. der sicheren Verwahrung – von „unruhigen Kranken“, die auch durch andere Therapieformen, etwa die Anwendung von „Dauerbädern“, unterstützt wurde. In den Landesirrenanstalten in Pergine und Hall wurden die „Bettbehandlung“ und die „Dauerbadtherapie“ ab 1905 in den eigens dafür eingerichteten Neubauten durchgeführt.

Wachsaal der Landesirrenanstalt Pergine, um 1910. Aus: Heinrich Schlöss (Hg.), Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild, Halle an der Saale 1912, S. 335.

Von besonderer Bedeutung war bei dieser, wie auch bei anderen Therapieformen der Zeit, die disziplinierende Funktion, die sie neben der therapeutischen zu erfüllen hatte: Durch den „verpflichtenden“ Aufenthalt im Bett sei:

„[…] das Gewöhnen der Kranken an eine gewisse Ordnung leichter zu erzielen, so dass das beständige, rastlose lärmende Wirrwar und Durcheinander in den verschiedenen Räumen, dieses abschreckende Spezifikum der Irrenanstalten in den neuen Anstalten glücklicherweise ganz verwischt […].“(Bericht des Landesausschusses über die Ausführung des Landtags-Beschlusses vom 15.7.1902)

In den Jahren von 1905 bis 1911 wurden in Hall jeweils zwischen 180 und 200 Patientinnen und Patienten „zu Bett gehalten“, Beruhigungs- und Schlafmittel kamen erstmals systematisch zur Anwendung.

Grundriss der Wachabteilung für 60 Frauen der Landesirrenanstalt Hall, um 1900. Aus: Heinrich Schlöss (Hg.), Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild, Halle an der Saale 1912, S.316.

 

Auszug aus der Rede des Baron Paul von Sternbach vor dem Tiroler Landtag 1903. Sternbach plädiert darin für die Um- und Erweiterungsbauten in den Landesirrenanstalten in Hall und Pergine sowie für die damit einhergehenden neuen Behandlungsmöglichkeiten. Die Ansprache steht als Download zur Verfügung.

 

 

Auszug aus einem Zeitungsartikel von 1905, den ein Journalist anlässlich der Eröffnung der Neubauten in Hall verfasste. Darin beschrieb er die neu errichteten „Wachabteilungen“ für die weiblichen (und männlichen) Patienten, in denen die neue Therapieform der „Bettbehandlung“ durchgeführt werden sollte. Der originale Zeitungsbericht steht als Scan zum Download zur Verfügung.
 

Arbeitsanregung Lehrende:

Der Überblickstext mit zwei Abbildungen dient als Grundinformation und kann die Unterrichtseinheit in Form eines Kurzeinstiegs einleiten oder als Handout den Studierenden zur Verfügung gestellt werden. Danach sollen zwei Quellentexte zur „Bettbehandlung“ von den Lernenden selbst erarbeitet werden. Hierfür empfiehlt es sich, zunächst die Beantwortung der W-Fragen in Auftrag zu geben: Wer ist die Verfasserin/der Verfasser? Wo und wann wurden die Texte verfasst? In welchem Zusammenhang wurden sie erzeugt und wozu wurden sie erstellt? Anschließend erstellen die Studierenden eine Zeichnung und diskutieren über die beiden Texte.

Arbeitsblatt Lernende: Download PDF (1 Seite) | Word (1 Seite)

 


 

Unterrichtsvorschlag II:

Der Student Siegfried E. Ein „aufgeklärter“ Klinikpatient um 1900 erzählt – ein Hörbeispiel mit Fallgeschichte

Lernziele:

  • Kennenlernen einer Krankheitsgeschichte um 1900
  • Vertraut werden mit einem spezifischen Quellentypus, einem Egodokument – in diesem Fall mit einer Selbstanamnese eines frühen Klinikpatienten
  • Gewahr werden der Zeit- und Kulturabhängigkeit von Krankheitsbild, Krankheitsbeschreibung und Krankheitswahrnehmung
  • Förderung des kritischen Quellenlesens und -verstehens
  • Schulung des Umgangs mit verschiedenen Lernmedien (Hör- und Textdokumente)

 
Basisinformation:

Die Wahrnehmung und Beschreibung von psychischer Krankheit ist einem historischen Wandel unterworfen und verdankt sich der jeweiligen Kultur ebenso wie dem zeitspezifischen Kenntnisstand der Medizin. Was vor 100 Jahren als krank galt, gilt heute möglicherweise als noch ausreichend gesund. Oder verhält es sich umgekehrt? Wird, was vor 100 Jahren noch als hinreichend gesund wahrgenommen wurde, heute schon als krankheitswertig eingestuft? In diesem Unterrichtsvorschlag geht es darum, sich in die Vorstellungswelten und Ausdrucksweisen eines frühen Klinikpatienten (1908) einzufühlen. Dies nicht allein deshalb, um aus Patientensicht die Geschichte einer Nervenkrankheit um 1900 nachzuvollziehen, sondern auch um zu erkennen, dass sich in die Erzählung des „aufgeklärten“ Kranken systematisch die Sprache der zeitgenössischen psychiatrischen Medizin und Klinik mischt. Ein Teil der Selbstbeschreibung des jungen Studenten steht als Hördokument zur Verfügung, ein anderer wurde zu einer Biografie verarbeitet und ergänzt das Hörbeispiel durch ein erläuterndes Textstück.

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Kurzer Auszug aus einer um 1908 vom Innsbrucker Klinikpatienten Siegfried E. verfassten 50-seitigen Selbstanamnese. Der Auszug wurde aus dem Originaldokument für die Wanderausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten. Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie in Tirol – Südtirol – Trentino“ zusammengestellt und liegt auch als Audio-Datei vor. Die Abspieldauer beträgt 4 Minuten. Das Tondokument steht im MP3-Format zur Verfügung.

 

Biografische Fallgeschichte von Siegfried E., der im Anschluss an seine Matura erstmals zum Patienten der Innsbrucker Psychiatrischen Universitätsklinik der Gründerzeit wurde. Grundlage der Fallgeschichte ist die überlieferte Krankenakte, respektive die darin enthaltene Selbstanamnese (1908 ff.) des aus heutiger Sicht als Drehtürpatient beschreibbaren, autodidaktisch gebildeten Botanikers und Philosophiestudenten. Seine historische Diagnose lautete Dementia praecox. Das Dokument steht im PDF-Format zur Verfügung.

 

Arbeitsanregung Lehrende:

Vor dem Hintergrund der These der Kultur- und Zeitabhängigkeit von Krankheitsbildern und ‑beschreibungen kann den Studierenden das 4-minütige Audiodokument vorgespielt werden, zuerst mit der schlichten Aufforderung, genau hinzuhören. Ein nochmaliges Vorspielen kann mit der Aufgabenstellung verbunden werden, Unverständliches oder gar Verstörendes zu notieren und im Plenum zu diskutieren. Im Anschluss wird die biografische Fallgeschichte zum Lesen verteilt und die Studierenden werden eingeladen, in Zweiergruppen die Fragen aus dem „Arbeitsblatt Lernende“ zu beantworten. Ergänzend können die Studierenden aufgefordert werden, probeweise ein Glossar der Fachausdrücke zu erstellen, in dem die früher verwendeten Begriffe durch heutige erklärt werden.

Arbeitsblatt Lernende: Download PDF (1 Seite) | Word (1 Seite)

 


Vertiefungsmaterial

(download pdf: auf Titel klicken)
 

Elisabeth Dietrich-Daum / Maria Heidegger, Menschen in Institutionen der Psychiatrie, in:
Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 42-68.

Angela Grießenböck, Zur Geschichte der psychiatrischen Landschaft im Kronland Tirol: Die
„Landes-Irrenanstalten“ Hall in Tirol und Pergine
, in: Eberhard Gabriel / Martina Gamper (Hg.), Psychiatrische Institutionen in Österreich um 1900, Wien 2009, S. 121-133.

Angela Grießenböck / Hermann J.W. Kuprian, Hunger, Not und Kälte, in:
Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 125-133.

Michaela Ralser, Im Vordergrund die Klinik. Das Beispiel der Innsbrucker Psychiatrisch-Neurologischen Klinik um 1900, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Rodolfo Taiani (Hg.), Psychiatrielandschaft / Oltre il manincomio, Themenheft der „Geschichte und Region / Storia e regione”17/2 (2008), S. 135-146.

Grundlagentext:

Elisabeth Dietrich-Daum / Michaela Ralser, Die „Psychiatrische Landschaft“ des „historischen
Tirol“ von 1830 bis zur Gegenwart – Ein Überblick
, in: Elisabeth Dietrich-Daum / Hermann Kuprian / Siglinde Clementi / Maria Heidegger / Michaela Ralser (Hg), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011, S. 17-41.

Weiterführende Literatur:

Michaela Ralser, Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900, Wilhelm-Fink Verlag, München 2010.